Aikido ist eine traditionelle, japanische Kampfkunstdisziplin, die sich weltweit großer Beliebtheit erfreut. Aikido bedeutet in etwa 'Der Weg der harmonisch koordinierten Energie'. Das besondere Credo des Aikido ist die gewaltlose und humanistische Philisophie gegenüber dem Angreifer. Aikido wurde aus klassischen, waffenlosen Nahkampftechniken des feudalen Japans und den Bewegungen des Schwertkampfes Anfang des 20. Jahrhunderts von Morihei Ueshiba entwickelt. Doch wie straßentauglich ist diese friedfertige Kampfkunst in einer realistischen Selbstverteidigungssituation wirklich?
Aikido war und ist Morihei Ueshibas großartige Vision, Kampftechniken, die ursprünglich dazu gedacht waren, den Gegner schwer zu verletzen oder zu töten, in einer sehr kontrollierten und verantwortungsvollen Weise zu vermitteln, um den Charakter und die Persönlichkeit des Übenden positiv zu entwickeln. Den gleichen Ansatz verfolgte Jigoro Kano mit seinem Judo zur gleichen Zeit. Doch Judo entwickelte sich im Schwerpunkt zu einer Sportart. Aikido blieb eine Kampfkunst mit sehr philosophischem und ethischen Grundlagen. Darum gab es auch regen Austausch zwischen den Aikido- und Judoka in ihrer Pionierzeit in Japan.
Das mittlerweile weltweit verbreitete Aikido ist zwar beliebt, aber noch längst nicht so verbreitet wie die bekannteren japanischen Kampfkunst- und Kampfsportdisziplinen Judo oder Karate. Wohl deshalb sind der Unterrichtsablauf und die Lehrprogramme noch sehr traditionell und teilweise international einheitlich vorgeschrieben. Das beudeutet beispielsweise, dass es eine (übersichtliche) Anzahl an Grundtechniken gibt, die gegen einen genormten Angriffskatalog mit genau verteilten Rollen zwischen (kooperativen) Angreifer (Uke) und Verteidiger (Nage) zu erfolgen haben.
Fortgeschrittene Aikidoka (= Aikidotreibende) lernen auch, sich gegen bewaffnete Angriffe zu verteidigen und mit den Waffen Jo (Stock), (Holz-)Schwert (Bokken) und Messer (Tanto) mit bewaffneten Angreifern zu agieren. Diese Standardtechniken und Standardangriffe nennt man Grundschule. Mit dem Erreichen des 1. Dan (= 1. Stufe) beherrscht der Aikidoka die Grundschule und (ist KEIN Meister!...sondern) lernt neben neuen Techniken vor allem, seine Techniken immer freier zur Neutralisierung der jetzt immer weniger abgesprochenen Angriffe einzusetzen. Bis dahin vergehen in der Regel 5 bis 10 Jahre; je nach Trainingsfleiß und Möglichkeit zu trainieren.
Die Grundtechniken und Bewegungsprinzipien sind relativ einfach aufgebaut, so dass jede einzelne Technik gegen eine Vielzahl von Angriffen einsetzbar ist. Die Standardangriffe wirken teilweise realitätsfremd, weil wohl kaum ein Angreifer, der nicht bewaffnet ist, einen Schlag von oben auf den Kopf seines stehenden Opfers ausführen würde oder einfach nur sein Handgelenk fassen würde...es sei denn vielleicht als eine Art Annäherungsversuch bei einer Frau. Ich sehe solche Angriffe eher als eine Art Beispiel, mit verschiedenen Bewegungs- und Druckrichtungen des Angreifers umgehen zu lernen. Angriffe mit dem Schwert kommen heutzutage auf der Straße auch nur noch sehr, sehr, sehr selten vor...Gott sei Dank! Die Arbeit mit dem Schwert ist für den Aikidoka in erster Linie wertvoll, um den Ursprung der waffenlosen Aikidobewegungen zu verstehen. Die Jo-Techniken können zur Verteidigunug zum Beispiel gut auf einen Regenschirm, Besenstil, Nordic Walking Stick oder Spazierstock übertragen werden. Die fortgeschrittenen, traditionellen Übungsformen Suwari-waza (aus dem Kniestand) und Hamni-hantachi (Angreifer steht, Verteidiger im Kniestand) sind vor allem alte Trainingsformen, die in der praktischen Selbstverteidigungsanwendung fast bedeutungslos sind. Lediglich Hamni-hantachi trainiert die übertragbare Situation, wenn der Verteidiger sitzt oder viel kleiner als der Angreifer ist. Bodenkampf gibt es im Aikido offiziell nicht, aber viele fortgeschrittene Aikidoka wissen sich meist zu helfen (siehe meine Anmerkung: der damalige Austausch zwischen Aikido und Judo).
Durch den Austausch zwischen dem Aikido und dem Judo entstand das Shodenkan Aikido durch Kenji Tomiki Sensei. Das Tomeiki Aikido ist optisch näher am Judo angesiedelt, direkt & einfach aufgebaut, leicht zu erlernen und recht effektiv. Techniken des Tomiki Aikido flossen in die Goshin-Jitsu-no-kata des Judo ein und repräsentiert mit diesen Techniken die moderne Judo-Selbstverteidigung. Im Tomiki Aikido gibt es auch Wettkämpfe.
Wenn Sie Aikido in erster Linie als eine Form von Philosophie und Harmonie in Bewegung sehen und nur untergeordnet als eine Selbstverteidigungsmethode, wirkt das Gesamtbild Aikido auf Sie runder. Aikido wird auch als einzigste innere Kampfkunst (Philosophie, Spiritualität und Prinzipien stehen weit im Vordergrund gegenüber körperlichen Techniken) Japans angesehen. Für mich ist Aikido ein großes, universelles Ganzes.
Typische Straßenangriffe wie Schwinger, Haken, Ringerangriffe oder Tritte fehlen gänzlich im Repartoire der Aikido-Standardangriffe! Realistische Selbstverteidigung bleibt also Arbeit für weiter Fortgeschrittene oder eine Randeinrichtung im Training mit Genehmigung des Lehrers.
Das Aikido Flow Dojo in London hat da, nach meiner Meinung, einen wirklich guten Ansatz.
Steven Seagal, 7. Dan Aikido (Stand 2015), machte Aikido auf der Leinwand in seinen zahlreichen Filmen populär. Steven Seagal lernte lange Jahre Aikido in Japan bis er zum Meister ernannt wurde. Sein Aikido (Tenshin Ryu) ist sehr direkt und kompromisslos und somit gut zur Selbstverteidigung geeignet. Sehr lobenswert finde ich, dass hier bei den Standardangriffen auch Tritte berücksichtigt werden, was man im traditionellen Angriffskatalog leider vergeblich sucht. So wurde Steven Seagal aka Take Sensei auch ausgebildet. Um aber solch eine Energie in die eigene Verteidigungstechnik fließen lassen zu können, braucht es lange Jahre fleißigen Trainings. Im folgenden Video sehen Sie ihn bei einer Sportveranstaltung in Russland:
Aikido Teacher Lenny Sly showing his realistic concept of applying traditional Aikido techniques in the left video.
Zum Vergleich rechts: so sieht ein sportliches Vollkontakt-Sparring zwischen einem Aikidoka und einen Taekwondoka aus. Kooperativer Trainingspartner, wie es traditionell im Aikido Standard ist = Fehlanzeige! Auf solche Situationen sollte ein ernsthaft selbstverteidigungsinteressierter Aikidoka allerdings vorbereitet sein:
Das sogenannte REAL AIKIDO unternimmt den Versuch, traditionelles Aikido zu einer modernen, zeitgemäßen Selbstverteidigung zu transformieren. Auf mich wirkt das Real (als Andeutung auf realistisch und nicht auf echt) Aikido mehr wie ein Ju-Jutsu-Stil; also eher eine Entwicklung zurück zum Stammvater des Aikido, dem Daito-Ryu-Jiu-Jitsu, das noch für das Schlachtfeld konzipiert war und nicht zur Persönlichkeitsentwicklung und Friedensstiftung. Dabei liegt im echten Aikido gerade der humanistische, friedvolle Ansatz als die Besonderheit des Systems zugrunde! Überzeugen Sie sich selbst im folgenden, sehr dynamischen Video:
Der moralische Grundsatz des Aikido, den Angreifer möglichst zu schonen und ihm eine Chance zur Einsicht seiner Fehlhandlung zu geben, ist sicherlich sehr nobel und erstrebenswert. Doch dazu gehört eine sehr deutliche, technische Überlegenheit gegenüber dem Angreifer, die Sie erst nach vielen Jahren intensiven Trainings erreichen werden!
Für die Zeit, wo der Anfänger zum Fortgeschrittenen wird, müsste es ein (nicht-traditionelles) Selbstverteidigungsprogramm geben, dass einen Neuling, der Aikido ernsthaft in erster Linie zur Selbstverteidigung erlernen möchte, innerhalb eines Jahres mit maximal einer handvoll Techniken gegen alle gängigen Angriffe verteidigungsfähig macht. Alle Bewegungen müssen einfach, direkt und vielseitig anwendbar sein. Hier muss das Prinzip 'Selbstschutz vor Angreiferschonung' unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit von Angriff und Verteidunung Priorität haben. Wichtig wären auch eine Verhaltensschulung in der Vorkampfphase in non-verbalen und verbalen Konfliktsituationen, denn Angriffe passieren zu 95% nicht mal einfach so! (...wie es leider in traditionelles Systemen fast nur trainiert wird.)
Je nach Aikido-Stil finden (vor allem) Schlag- und (weniger) Tritttechniken (= Atemi) im Aikido mehr oder weniger Anwendung, um den Angreifer für eine Wurf- oder Hebeltechnik vorzubereiten bzw. abzulenken oder kampfunfähig zu machen. Aikido-Begründer O-Sensei (= großer Lehrer) Morihei Ueshiba sah den Einsatz von Atemitechniken so: Im Training bis zu 30 % mit (in der Regel angedeuteten) Atemis arbeiten, im Ernstfall mit über 70 % mit Atemis arbeiten, um die Aikidotechniken zu unterstützen. Ein sehr beherztes Hineingehen in eine Aikidotechnik mit dem ganzen Körper kann so schnell auch eine atemiartige Wirkung entfalten. Je nachdem wie hart der Aikidoka seinen Angreifer zu Boden wirft, kann ein Aikidowurf den KO für den Angreifer bedeuten.
...und wie hält es mein Sensei (= Meister), Kenji Shimizu, Begründer des Tendoryu Aikido? Sehen Sie selbst. Sehr direktes, praktisches und kontrolliertes Aikido. So mag ich das!
Mein Fazit & Verweis auf meinen Blogartikel (Was braucht eine realistische SV):
Wer mit Aikido nur aus primärem Selbstverteidigunginteresse anfangen möchte, sollte sich entweder nochmal überlegen, ob er dort richtig ist oder parallel zwei Systeme lernen: Eines, das die realistische Selbstverteidigung im Focus hat und Sie innerhalb eines Jahres bei intensivem Training verteidigungsfähig gegen alle gängigen (waffenlosen) Angriffe macht...und, wenn es auch Sie fasziniert hat: Aikido. Bis Sie dann den Aikido-Einfluss in ihr Selbstverteidigungskonzept übertragen können, wird es einige Jahre dauern. Sie bräuchten einen erfahreren Aikidolehrer, der dies toleriert und viel Eigeniniziative, sich ab einem bestimmten Ausbildungsstand, wo Sie schon einige Techniken gut anwenden können, regelmäßig in kontrollierten Sparringssituationen, Ihre (meist schmerzhaften) Erfahrungen zu sammeln, wie Sie sich am besten gegen verschiedenste Angreifer und Angriffe behaupten können, ohne selbst zu viel Prügel zu beziehen. Irgendwann können Sie dann auch den Aikidoanteil Ihrer Selbstverteidigungstechnik deutlich erhöhen und bei deutlicher Überlegenheit einzelne Angreifer sanft besiegen und so den Geist des Aikido wahrhaft verbreiten. Ich wünsche Ihnen viel Spaß auf dieser anstrengenden Reise!
Aus meinem Amazon Partner Programm gibt es hier weiterführende un vertiefende Literatur zum Thema.
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Christian (Dienstag, 19 Januar 2016 13:51)
Hallo,
die Behauptung, dass es Jahrzehnte braucht um Aikido effektiv zur Selbstverteidigung zu nutzen ist so nicht richtig. Es ist sehr vom Training abhängig. Dass es auch schneller geht zeigt z.B. das Training von Shihan Larry Reynosa, einem ehemaligen Schüler von Steven Seagal. In dem von ihm unterrichteten Makoto Aikido zeigt er, dass Aikido sehr tauglich in SV-Situationen ist und es eben nicht Jahrzehnte braucht um das zu erreichen. Er ist auch immer wieder zu offenen Kampfkunst und SV Seminaren in Deutschland. Auch gibt er regelmäßig auf seinem Aikido basierende SV-Kurse die nicht Jahrzehnte andauern, bis man weiß wie man sich bei Übergriffssituationen wehren und retten kann.
Beste Grüße
Oliver (Dienstag, 19 Januar 2016 19:54)
Hallo Christian,
danke für Dein Feedback. Ich habe das 'jahrzehntelang' jetzt auf 'lange Jahre' geändert; mit der Grundlage, dass die meisten Aikidoka auf die traditionelle Weise mit den traditionellen Angriffen ausgebildet werden. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Lehrer, die die traditionelle Ausbildung zugunsten der SV-Fähigkeit modifizieren, wie es in der Linie von Steven Seagal und ähnlich denkenden Lehrern geschieht.
Robert (Donnerstag, 29 September 2016 14:20)
Hallo !
Sie schrieben folgenden Satz der mir sehr zusagte;
Wenn Sie Aikido in erster Linie als eine Form von Philosophie und Harmonie in Bewegung sehen und nur untergeordnet als eine Selbstverteidigungsmethode, wirkt das Gesamtbild Aikido auf Sie runder.
Ich bin älteres Semester und seit kurzem in Pension, um mich nach einigen schweren OPs wieder fitter und beweglicher zu machen würde ich gerne eine Aikido Schule in meiner Nähe besuchen.
Ich wäre froh wenn sie mir kurz ihre Bedenken oder ihre Befürwortung mitteilen könnten.
Danke Lg Robert
Oliver Triebel (Donnerstag, 29 September 2016 15:21)
Lieber Robert,
am besten sprechen Sie darüber mit Ihrem Hausarzt und mit dem Aikidolehrer Ihrer Wahl, um hier eine optimale Entscheidung treffen zu können. Bitte bedenken Sie, dass Sie im Aikido auch fallen lernen müssen, um geworfen werden zu können. https://www.youtube.com/watch?v=0e3TsJFzPpc
Es wird teilweise auch Seniorentraining angeboten. Bei einem guten und einfühlsamen Lehrer werden Sie langsam und kontinuierlich an die Aikidobewegungen herangeführt, ohne körperlich überfordert zu werden.
LG, Oliver